Im Schatten des Maidan - Gedanken zur aktuellen Krise auf der Krim

Das die Situation in der Ukraine brenzlig ist, zählt wohl zu den Untertreibungen des Jahres. Seit dem Wochenende stehen sich auf der Halbinsel Krim bis an die Zähne bewaffnete Streitkräfte Russlands und der Ukraine, sowie bewaffnete Bürgerwehren aus Russischstämmigen Bewohnern der Halbinsel gegenüber. Auch wenn die Halbinsel de jure noch zum Staatsgebiet der Ukraine gehört, so befindet sie sich de facto unter Russischer Kontrolle. Russland versucht offenbar, sich die Strategisch wichtige Halbinsel mit allen Mitteln zu sichern.
Doch was ist der Hintergrund? Was denkt sich Vladimir Putin mit diesem Vorgehen? Was will Russland erreichen, und wie weit wird der Kreml gehen? Und vor allem, wenn es zum schlimmsten kommt, mit was können wir rechnen?
Fangen wir mit dem Hintergrund an. Die Halbinsel Krim, an der Nordküste des Schwarzen Meers gelegen, gilt als der Schlüssel zu eben jenem Meer. Bis heute sind Schiffe, die an der Südspitze der Krim stationiert sind, in der Lage, alle wichtigen Schifffahrtswege zwischen dem Bosporus, dem Donaudelta, und dem Kaukasus innerhalb kürzester Zeit zu erreichen, zu kontrollieren, und zu blockieren. Was die Geschichte der Halbinsel angeht, so komme ich nicht umhin, festzustellen, das die Krim praktisch im 100-Jahres-Abstand den Besitzer gewechselt hat, eine Art geopolitischer Basketball, der von Spieler zu Spieler weitergegeben wird. Griechen, Roemer, Byzantiner, Mongolen, die Handelsnationen Genua und Venedig, Krimtataren, Osmanen, und zum Schluss das Russische Zarenreich, alle diese Nationen hatten zum einen oder andern Zeitpunkt die Krim unter ihrer Kontrolle. Im 20 Jahrhundert wurde der Boden der Insel wieder mit Blut getränkt, erst im Rahmen des Russischen Bürgerkriegs in den 1920er Jahren, dann im 2. Weltkrieg, als die Wehrmacht kurz davor war, den kompletten Schwarzmeerraum unter seine Kontrolle zu bekommen. 1944 wurde dann die komplette Bevölkerung der Krimtartaren, die seit dem frühen Mittelalter auf der Halbinsel gelebt hatten, auf Anweisung von Diktator Josef Stalin deportiert, als Bestrafung für ihre Kooperation mit den Nazis während der Deutschen Besetzung der Krim. Nach dem Tod des Tyrannen aus Georgien wurden die Krimtataren zwar rehabilitiert, zurückkehren durften sie jedoch erst in den letzten Jahren der Sowjetunion. Das mit Blick auf die aktuelle Situation wichtigste Ereignis mit Bezug auf die Krim fand im Jahr 1954 statt. Der bis dato zur Russischen Sowjetrepublik gehörende Verwaltungsbezirk Krim wurde, zum 300. Jubiläum des Eintritts des Ukraine in das Zarenreich, der ukrainischen Sowjetrepublik zugeteilt. Diese Einteilung wurde auch Beibehalten, als die Sowjetunion 1992 zerfiel, und die Ukraine unabhängig wurde. Auf einmal befand sich ein Größtenteils von Russen bewohntes Gebiet auf dem Territorium der Ukraine, nicht zu vergessen der wichtige Hafen von Sewastopol, der Heimathafen der Schwarzmeerflotte, einer der 4 Grossen Flotten der ehemaligen Sowjetmarine.
Der Status der Schwarzmeerflotte, wurde 1994 vertraglich geregelt, als Russland die Basen in und um Sewastopol pachtete. Dieser Pachtvertrag wurde erst vor kurzem verlängert, so dass die Sicherheit der Flottenbasis gewährleistet ist.
Was ist nun das Ziel von Vladimir Putin? Er hat hier mehrere. Das erste Ziel ist in der Geschichte Russlands bedingt. Die Invasionen durch die Mongolen im Mittelalter, durch Napoleon Anfang des 19. Jahrhunderts, und durch Hitler 1941 haben eine tiefe Spur in der kollektiven Psyche Russlands, vor allem auf Führungsebene, hinterlassen. Es herrscht dort ein tiefes Misstrauen gegen die Westlichen Nationen vor, und man setzt alles daran, einen direkten Grenzkontakt mit Machtblöcken zu vermeiden, die eine militärische Gefahr für das Russische Mutterland darstellen. Neben Stalin's Machtgier war auch dieser Gedanke einer der Gründe für den Aufbau des Warschauer Pakts als Gegengewicht zur NATO. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes Anfang der 1990er schien dann genau das einzutreten. Während Russland am Boden lag, und kaum in der Lage war, seine eigene Bevölkerung zu erhalten, begannen viele der ehemaligen Vasallen des Riesenreiches, sich gen Westen zu orientieren. Als schliesslich die Baltischen Staaten EU-, und NATO-Mitglieder wurden, war genau das eingetreten, was die Sowjetische Aussenpolitik über Jahrzehnte verhindern hatte wollen. Es gab eine direkte Grenze zwischen Russland und dem alten Feind NATO. 
Präsident Putin will verhindern, das sich so etwas noch einmal wiederholt, nicht zuletzt um seinen Plan von einer Eurasischen Union, einer Zollunion, die im Endstadium erstaunlich genau den Grenzen der alten UdSSR folgen wird, zu gefährden. In seinen Augen stellt daher jeder Versuch eines direkten Nachbarn, einen pro-westlichen Kurs einzuschlagen, eine sich öffnende Lücke in der Panzerung dar, eine Gefahr, die man verhindern muss. Und auch wenn Vladimir Putin, ganz im Schatten seiner Ausbildung als Geheimdienst-Offizier, lieber im Hintergrund arbeitet, scheut er dabei auch nicht vor offenen Konflikten zurück, wie man 2009 in Georgien gesehen hat. Die aktuelle Situation in der Ukraine passt ganz dazu, die maskierten Truppen, obwohl augenscheinlich ganz klar russisch, vermutlich Speznas, oder andere Spezialeinheiten, halten sich zurück und treten kaum in Erscheinung, während die Situation im Krisengebiet gezielt in eine Richtung gelenkt wird, die Vladimir Putin in die Hände spielt. 

Doch die Ambition, einen Gürtel von Vasallenstaaten aufzubauen, ist nur einer der Gründe für die heftige Reaktion Russlands auf den Machtwechsel in Kiew. Der 2. Grund liegt direkt an der Südspitze der Krim, in der Hafenstadt Sewastopol. Hier befindet sich seit dem Jahr 1783 das Hauptquartier der Russischen Schwarzmeerflotte. Mit ihren 38 Schiffen hauptsächlich sowjetischer Herkunft gehört sie sicher nicht zu den groessten Flotten der Welt, vor allem wenn man in Betracht zieht, das auch Hilfsschiffe wie Minenräumboote oder Landungsschiffe in dieser Zahl eingeschlossen sind. Doch trotz der Tatsache, das die Flotte nur über 5 schwere Einheiten, einen Kreuzer, einen Zerstörer, und drei Fregatten, verfügt, stellt sie doch einen wichtigen Pfeiler für die Russische Aussenpolitik dar. Die logistische Unterstützung der Russischen Operationen im Mittelmeer und am Horn von Afrika werden von hier aus unterstützt. Das gleiche gilt für die Russische Marinebasis im Hafen von Tartus in Syrien, bevor diese wegen des Bürgerkrieges geräumt wurde. Zusammen mit den Unterstützenden Einheiten der Marineflieger und der Marineinfanterie wird einem klar, das diese Flotte, die lange Jahre als das Stiefkind der Russischen Marine galt, eine beträchtliche Streitmacht ist, und dem Kreml eine ganze Reihe von Optionen im Südeuropäischen Raum, der Levante, und darüber hinaus eröffnet. Es ist verständlich, das Vladimir Putin eine derartige Option nicht leichtfertig aus der Hand geben will.
Man darf hier auch nicht die ethnischen Hintergründe vergessen. Auch wenn Ukrainer und Russen für uns Westeuropäer kaum zu unterscheiden sind, so gibt es doch deutliche Unterschiede, die nur zu einem Teil auf die Geographische Nähe der Östlichen Provinzen des Landes zur Russischen Grenze zurückzuführen sind. Während zur Zeiten der Sowjetunion derartige Differenzen gezielt überspielt und ignoriert wurde, sind eben diese Differenzen seit dem Ende des Kalten Krieges immer klarer hervorgetreten, erst recht seitdem die Ukraine, die 300 Jahre lang Teil Russlands gewesen war, ihre Unabhängigkeit erklärt hat. Dies hat jede Menge Böses Blut generiert, auf beiden Seiten. Russland sieht sich traditionell als Schutzmacht für Russische Staatsbürger weltweit, und vor allem in seinem traditionellen Interessensgebiet um seine Grenzen herum. Insofern bleibt der Regierung im Kreml gar nichts anderes übrig, als aktiv zu werden, wenn sich die Russische Bevölkerung eines Gebietes bedroht fühlt.
Das Vorgehen Russlands in diesem Fall ist eigentlich schon seit einigen Tagen offensichtlich. Die kaum verhüllten Russischen Truppen halten sich im Hintergrund, während die meiste Arbeit von "Milizen" erledigt wird, die vom Anschein her nichts mit der Russischen Armee zu tun haben. Das diese Einheiten allerdings gezielt die Basen blockieren, die für die Ukrainischen Streitkräfte am wichtigsten sind, hier sei nur der Luftwaffenstützpunkt Belbek genannt, auf dem 45 ukrainische Mig-29 festsitzen, lässt darauf schliessen, das der Militärgeheimdienst GRU, oder zumindest der FSB seine Finger hier im Spiel hat. Man sollte also die Aussagen von Aussenminister Lawrow, das man keine Kontrollen über diese Einheiten hat, mit einer gehörigen Portion Ironie betrachten. Die ganz grosse Frage ist allerdings, wie weit Putin bereit ist, zu gehen. 
Vladimir Putin als Sympathieträger zu bezeichnen, ist angesichts der aktuellen Entwicklungen mehr als gewagt. Er wird gerne als verrückt dargestellt, als Größenwahnsinnig. Und auch wenn letzteres durchaus zutreffen mag, ist ersteres definitiv nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Putin war 15 Jahre lang Mitarbeiter des KGB in verschiedenen Positionen, nicht zuletzt auch als illegaler (Agent mit gefälschten Papieren) Mitarbeiter der KGB-Residentur in Dresden. Auch im Nachfolgedienst FSB hat er eine beträchtliche Karriere hingelegt. Auch wenn es uns manchmal erscheint, als ob er kopflos, und impulsiv reagiert, so ist er doch ein kühler Denker, und weiss genau, wie weit er gehen kann. Ich bin der Meinung, das man seiner Aussage, das er sich eine militärische Option in der Ukraine zwar offen hält, diese aber vorerst nicht in Betracht zieht, durchaus Glauben schenken kann. Putin muss gar nicht offen agieren, seine Fähigkeiten als Geheimdienst-Offizier ermöglichen ihm, die Bedingungen vor Ort genau so hinzubiegen, wie es für ihn am besten und lukrativsten ist. Wenn es allein von Vladimir Putin abhängen würde, ob es wegen der Krim und dem Osten der Ukraine zum Krieg kommt, so würde ich heute erheblich leichter atmen. 

Denn mittlerweile hat sich die Situation derart aufgeschaukelt, das eine Fehlentscheidung ausreicht, um die ganze Region in ein Blutbad zu stürzen. Die Übergriffe auf den UN Sondergesandten Richard Serrey, ebenso wie gewalttätige Angriffe auf Befürworter des Umschwungs haben gezeigt, wie gereizt die Lage vor Ort ist. Auch die Explosive Pattsituation am Fliegerhorst Belek vor einigen Tagen hat die angespannte Situation eindrucksvoll demonstriert. In einer derartigen Atmosphäre reicht ein einziger nervöser Finger am Abzug, ein einziger Demonstrant, dem die Sache zu Kopf steigt, aus, um einen Bürgerkrieg heraufzubeschwören, der auch für Russland zu schwer zu kontrollieren sein wird. Und dies trotz seiner starken Militärpräsenz auf der Halbinsel und in der Region.
Stichwort Russisches Militär: In den letzten Tagen wurde viel über die enorme Übermacht der Russischen Streitkräfte geredet. Und auf dem Papier ist diese Übermacht auch erdrückend. Es wird gerne eine Zahl von 845.000 Soldaten herumgereicht. Dies mag wahr sein, allerdings umfasst dies alle sechs Russischen Teilstreitkräfte, also Heer, Marine, Luftstreitkräfte, Strategische Raketentruppen, Luftlandetruppen, und die Luftverteidigungstrupen. Das Heer selbst, was im Falle eines Kriegs um die Krim eine Grossteil der Kampflast tragen würde, umfasst nur 360.000 Soldaten, die sich auf die vier Militärdistrikte Russlands verteilen. Im besten Fall kann Russland also ein Viertel seiner Streitkräfte gegen die Ukraine ins Feld führen, ohne Einheiten aus anderen Gebieten des Landes abziehen zu müssen. Hinzu kommt noch der Faktor, das nicht alle Einheiten des Russischen Militärs einsatzbereit sind. Die Jahre des Stillstands und des Zusammenbruchs vom Ende der Sowjetunion bis nach dem Amtsantritt von Vladimir Putin haben ihre Spuren hinterlassen. Auch wenn die Quantitative Aufstockung der verbleibenden Einheiten mittlerweile abgeschlossen ist, so müssen viele Armeeeinheiten doch noch gründlich modernisiert werden. Während diese jedoch mit neuer Ausrüstung vertraut gemacht werden, stehen sie natürlich für Einsätze nicht zur Verfügung. Dies betrifft alle Teilstreitkräfte, nicht nur das Heer.
Auch die Ukraine hat mit einem derartigen Zusammenbruch zu kämpfen gehabt. Ebenso ist auch sie noch damit beschäftigt, ihre Streitkräfte zu modernisieren, und wieder auf die Beine zu stellen. Ihr stehen jedoch 73.000 Soldaten des Heeres unmittelbar zur Verfügung, ohne sie erst aus abgelegenen Landesteilen heranführen zu müssen. Eine russische Dampfwalze, wie sie während des Kalten Krieges als Schreckgespenst heraufbeschworen wurde, wird in der Ukraine also nicht zum Einsatz kommen, selbst wenn es zum schlimmsten kommen sollte. Russland wird eher versuchen, die Größte Schwäche des Ukrainischen Militärs auszunutzen: Die mangelnde Einsatzfähigkeit der Luftwaffe. Die Ukrainischen Luftstreitkräfte verfügen zwar über moderne Kampfflugzeuge vom Typ Suchoi Su-27 Flanker, und MiG-29 Fulcrum, jedoch sind nur jeweils 16, bzw, 24 Maschinen jedes Typs einsatzbereit. Auch wenn massive Luftkämpfe wie während des 2. Weltkriegs oder über Korea nicht zu erwarten sind, so wird eine derart dezimierte Luftwaffe kaum genug Luftdeckung für die Bodenstreitkräfte geben können. 
Dies würde jedoch bedeuten, das es zu einem vollwertigen Militärkonflikt zwischen der Ukraine und Russland gekommen ist. Dies ist in kleinster Weise im Interesse Russlands, die zwar das Gebiet um die Krim sichern möchten, allerdings eine stabile Situation dort erreichen möchten. Ob Putin noch die Möglichkeiten hat, dies zu erreichen, sei dahingestellt. Ich komme in diesem Zusammenhang nicht umhin, an ein Interview mit dem ehemaligen US-Verteidigungsminister Robert McNamara zu denken. Ueber die Ereignisse während der Kubakrise befragt, stellte er fest, das sie nur durch viel Glück und die Selbstbeherrschung eines Sowjetischen U-Boot-Kommandanten an einem Atomkrieg vorbei geschrammt waren. Genau so kommt mir die Situation auf der Krim momentan vor. Werden diesmal alle Beteiligten einen kühlen Kopf bewahren?

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

CUII Bono?

Vom Tod einer Stadt - die vergessene Katastrophe von Longarone

Einmal Oslo und zurück - Kurzurlaub mit Color Line